Afrika mit der Seele erkunden

NEUE ZÜRCHER ZEITUNG
Afrika mit der Seele erkunden

Die westafrikanische Republik Benin ist die Wiege des Voodoo – eine Reise zu den Göttern, Fetischen und Medizinmännern

Voodoo beherrscht alles im kleinen westafrikanischen Staat Benin, von dessen rund neun Millionen Einwohnern sich eine große Mehrheit zu diesem traditionellen Kult bekennt.

Um den Opferaltar am Boden drängen sich die Zuschauer. Kinder schreien, drei Frauen murmeln unverständliche Sätze vor sich hin, Handys klingeln, Menschen kommen und gehen. Dann plötzlich sticht der Mann das spitze Messer gezielt in den Hals der Ziege. Das Blut ergiesst sich über die am Lehmboden aufgebauten Kalebassen und Holzfiguren. Das Tier zuckt noch, als es weggetragen wird; drei weitere Ziegen und ein Huhn erleiden dasselbe Schicksal. Es dauert nur wenige Minuten, dann trocknet auch ihr Blut in der Morgensonne. Ein blutbespritztes Glas mit Gin und Stücke einer Kola-Nuss werden herumgereicht. Jeder muss davon trinken und essen; wir auch.

Offiziell anerkannte Religion

Der Voodoo-Kult beherrscht alles in Benin, dem kleinen westafrikanischen Land, welches als die Wiege dieses Kultes gilt. Opferrituale zu Ehren der Ahnen oder aus Dank für die Erfüllung eines Wunsches gehören hier zum Alltag. Überall trifft man auf Tempel und Fetische, welche verschiedene Götter des Voodoo-Pantheons verkörpern. Der Kult verbreitete sich mit dem Sklavenhandel vor allem nach Amerika und in die Karibik. Dort mussten die Sklaven den christlichen Glauben ihrer Herren annehmen, doch ihre eigenen Riten praktizierten sie im Geheimen weiter; die Religionen vermischten sich. Heute bezeichnen sich knapp 70 Prozent der fast neun Millionen Einwohner Benins als Christen oder Muslime, doch die Mehrheit glaubt auch an Voodoo. Seit 1996 ist der Kult sogar offiziell als Religion anerkannt.

Auch der 30-jährige Guy findet das ganz normal. «Ich bin Katholik», sagt der Enkel eines bedeutenden Voodoo-Priesters aus Ouidah, «aber ich nehme an den Festen und Zeremonien teil. So zolle ich den Ahnen meinen Respekt.» Wie viele andere Christen geht er sonntags in die Kirche und nimmt abends an einem Voodoo-Fest teil. Dazu gehören etwa die wirbelnden Zangbetos; bunte Heuhaufen, die sich wild im Kreis drehen. Unter den Kostümen verstecken sich Männer, die sich in Trance befinden. Die Menschen in Benin glauben, dass ihre Körper so von den Geistern der Nacht gesteuert werden können. Und weil diese Geister alle Übeltäter erkennen sollen, sieht man in den Zangbetos eine Art Voodoo-Polizei, die Hexen und Diebe aufgreift.

Ähnlich bedeutend ist das Auftreten von Egunguns; Männern mit aufwendig bestickten Umhängen und dekorierten Masken. Hier glaubt man, dass sich unter den Kostümen keine Menschen, sondern die Geister der Ahnen befinden. Unmenschlich sind auch die blechernen Stimmen der Kostümierten. Sie kämen aus dem Jenseits, heisst es als Erklärung für den Ursprung dieser unheimlichen Klänge. Deshalb gilt auch, dass bereits eine einzige Berührung eines Egungun zum sofortigen Tod führe. So wundert es nicht, dass kleine Kinder kreischend vor den Ungetümen davonlaufen und Erwachsene angsterfüllt zur Seite springen.

Schwarze Schafe

Voodoo hat nichts mit schwarzer Magie zu tun, sagt Dagbo Hounon Tomadjlehoukpon Metogbokandji II. Er ist das Gegenstück zum Papst; das weltweite Oberhaupt aller Voodoo-Anhänger. Nachdem ein angemessener Preis von zehn Euro für eine Audienz ausgehandelt worden ist, empfängt er uns in seiner Lehmhütte. Ganz in Weiss – der Farbe des Voodoo – gekleidet, thront er auf einem braunen Plüschsofa. «Was hat es denn mit den Zombies und mit nägeldurchbohrten Puppen auf sich?», frage ich, geprägt von Filmen aus Hollywood. Er lächelt: «Unsere Religion ist rein. Sie dient dem Heilen und erhält das Gleichgewicht in der Gemeinschaft. Nur gibt es leider auch bei uns schwarze Schafe, die sich der Hexerei verschrieben haben.» Der Taxifahrer Thierry hat schon mit ihnen zu tun gehabt. Er sagt: «Meine Nachbarin wurde während ihrer Schwangerschaft verhext. Fünf Jahre trug sie das Kind in ihrem Bauch; konnte es nicht gebären. Laut den Ärzten war es aber gesund. Sie suchte Hilfe bei einem Medium, der die bösen Geister austrieb. Doch statt eines Säuglings gebar sie Watte und Nägel.» Ähnliches hört man häufig – statt Watte kommen auch Spiegel oder Karpfen zur Welt.

Wer einen besonders grossen Wunsch hat, pilgert zum Dankoli-Fetisch nahe der Stadt Savalou. Der Gott, der von einem stinkenden, schwarzen Haufen aus Blut, Knochen, Federn und Palmöl verkörpert wird, ist so mächtig, dass man nicht einmal einen Priester als Mittler benötigt. Die Hüter des Fetischs erzählen von unsterblich Kranken, die vom Dankoli geheilt wurden; von Studenten, die eine fast unmögliche Prüfung bestanden; und von Kindern, die nur dank diesem Gott zur Welt kamen.

Eindrücklicher Fetisch-Markt

Werden die Wünsche erfüllt, müssen – je nach Abmachung – Hühner, Ziegen oder Kühe geopfert werden. Die Zutaten für solche Rituale kauft man natürlich auf dem eigens dazu eingerichteten Fetisch-Markt. Eine der grössten dieser Voodoo-Apotheken findet sich in der Hauptstadt Cotonou auf dem Grand Marché du Dantokpa. Man muss nur dem Geruch der Verwesung folgen und trifft auf die Stände, die sich entlang der Lagune der Stadt drängen. Neben verschrumpelten Hunde- und Affenköpfen liegen Kadaver von Vögeln, Chamäleons und anderen Tieren, Knochen, Tierhäute, lebende und tote Schlangen und Gri-Gri genannte Amulette. Manch einer reibt seinen Körper aber auch mit einer zermahlenen Eidechse ein, um sich gegen Unfälle und das Böse zu wappnen. Das beeindruckendste Stück im Sortiment ist der halb verweste Kopf eines Flusspferdes. «Den braucht man zur Bekämpfung eines starken Zaubers», weiss der Verkäufer.

An einem anderen Stand kann man sich sein Fa-Orakel lesen lassen. Ein «Bokonon» wirft eine doppelte Schnur mit acht halben Ölpalmennüssen. Das Fa ist wohl eines der ältesten und kompliziertesten Orakel-Systeme der Welt. Über 250 Zeichen können sich aus den Nusshälften ergeben, je nachdem, wie sie fallen. Der «Bokonon» behauptet, dass er mit ihrer Hilfe in die Seele der Menschen schauen kann. Einem Fremden kommt der Kult aber höchst geheimnisvoll vor. Und so soll es auch sein, denn Voodoo heisst übersetzt «Das, was man nicht ergründen kann».



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