Kalkutta. Die Stadt der schwarzen Göttin

Kalkutta

Hupen ist für die Bewohner Kalkuttas gleichbedeutend mit Atmen. Es geht nicht ohne. „Huuup,huuup, hup“, tönt es Tag und Nacht durch die Strassen der Metropole im Nordosten Indiens. Nicht kurz und zaghaft, sondern lange und laut. Man sagt, dass die Straßen Kalkuttas leer wären, würde man den Bewohnern ihre geliebte Hupe wegnehmen. Doch vielleicht ist es für sie die einzige Möglichkeit sich in dieser heillos überbevölkerten Stadt mit etwas über fünf Millionen Einwohnern, im Großraum Kalkutta sind es sogar über 15 Millionen, Gehör zu verschaffen.

Seit der Unabhängigkeit Indiens und der daraus folgenden Staatsteilung von Bengalen im Jahr 1947 erlebte die Stadt einen nicht enden wollenden Zufluss von Menschen. Hindus flohen aus dem muslimischen Ost-Pakistan, das später zu Bangladesch wurde. Danach folgten die Bauern und Landarbeiter, in der Hoffnung in der bengalischen Hauptstadt der Armut und dem Hunger zu entfliehen. Und nun kommen tagsüber noch Millionen Pendler hinzu. Morgens spült es die Fabrikarbeiter, Büroangestellten, Handwerker und Händler aus den Zügen auf die Gleise des Haora-Bahnhofs. Wie der schlammige Hugli-Fluss, ein Seitenarm des Ganges, bahnt sich der Menschenstrom seinen Weg über die stählerne Haora-Brücke und verteilt sich auf die Strassen, Werkstätten, Garküchen und Bürohäuser.
Männer jonglieren auf ihren Köpfen Körbe voller Ananas, Mangos und Tomaten. Ein Junge hat ein paar DVDs mit Bollywood-Schinken und amerikanischen Action-Streifen am Boden vor sich auf einem Tuch ausgebreitet. Potentielle Kunden werden von den nachrückenden Passanten weitergedrängt. Handwerker drechseln Holzsockel, schlagen Kupferschüsseln aus und formen Figuren aus Stroh und Ton, die zu Ehren der Göttin Durga im Hugli versenkt werden. Bettler halten den Passanten ihre leeren Hände hin. Lahme Ochsenkarren, überladene Lastwägen, rostige Straßenbahnen, bunte Tata-Busse und schwarz-gelbe Ambassador-Taxis verkeilen sich auf den holprigen Straßen. Nur die barfüßigen Rikscha-Wallahs finden immer eine Lücke.Es ist kein Ort, an dem man als Reisender mit dem Führer in der Hand die Sehenswürdigkeiten sucht. Vielmehr lässt man sich Treiben; sich einnehmen von der Stadt, die ihrem Ruf nach eigentlich abgrundtief hässlich sein müsste und doch so faszinierend schön ist. Dem Chaos, dem Lärm und der Armut trotzt die Gelassenheit der Menschen, die sich mit allen Widrigkeiten auf ihre eigene Art arrangieren. So wie der Stempelverkäufer in der einst mondänen, heute etwas heruntergekommenen Park Street im Herzen der Stadt. „Das ist mein Büro,“ sagt er und zeigt stolz auf seinen kleinen mit Stempel und Stempelkissen beladenen Klapptisch und hält dem Kunden eine Visitenkarte entgegen. Darauf stehen Straßenname und Hausnummer des Gebäudes, vor dem er seinen Stand aufgebaut hat. Es ist einer der besten Adressen in der Stadt. In den Restaurants und Clubs des Viertels Chowringhee, dessen Türen einem von uniformierten Portiers aufgehalten werden, speisen und amüsieren sich die wohlhabenden Bengalen. Intellektuelle, Künstler und Studenten besuchen die zahlreichen Kaffeehäuser. Wer es sich leisten kann, kauft in den modernen Läden feine indische Sari-Stoffe oder Kleider internationaler Labels ein. Gigantische Villen, Häuser und Paläste, erbaut von indischen Aristokraten oder den englischen Kolonialherren, reihen sich entlang der breiten Straßen und Boulevards im Zentrum. Im 19. Jahrhundert wurde Kalkutta dank prächtiger Bauten wie St. Paul’s Cathedral, dem Indischen Museum, dem Marmor Palast oder dem Great Eastern Hotel auch „Stadt der Paläste“ genannt. Mit dem Umzug der Kolonialhauptstadt in das zentraler gelegene Delhi im Jahr 1911, ging es mit der Metropole am Hugli jedoch stetig bergab.Beim Anblick der baufälligen Villen, die sich hinter löchrigen Mauern verstecken, ist der Glanz von damals nur noch zu erahnen. Das architektonische Erbe wird zu großen Teilen sich selbst überlassen, gerät in Vergessenheit. In manchen Fällen ist das Besitzverhältnis nicht geklärt, in anderen fehlt es einfach an Interesse oder Geld.In einem der alten Paläste an der Park Street lebt Sajid Meerza. Wie selbstverständlich lädt er neugierige Besucher in sein Heim ein. Nur ein paar Räume werden bewohnt. Der 35-Jährige zeigt auf eine, mit einer großen Kette verschlossene Tür. „Dahinter ist der Saal, wo früher die großen Feste gefeiert wurden“, erzählt er. Das Haus soll den Nawabs von Murshidabad gehört haben. Die Geschichte dieser Herrscher von Bengalen ist eng mit der Kalkuttas verbunden. 1756 eroberte der damalige Nawab den noch kleinen Handelsstützpunkt von den Engländern und ließ seine Gefangenen in einen dunklen, engen Raum stecken, der heute als „Schwarzes Loch“ zu einer Legende geworden ist. Über Nacht erstickten vierzig der dort Eingesperrten. Diese Schmach ließen die Briten nicht auf sich sitzen und holten sich die Stadt am Hugli bald wieder zurück. Fortan zogen die Kolonialherren die Fäden ihrer Marionetten-Herrscher.Vom nächsten Zimmer könnte man durch eine Glastür die Terrasse betreten. Könnte, weil ein Loch, so groß wie ein Auto, im Boden prangt. Wäsche hängt an einer Leine, die über das Loch gespannt wurde. Bäume wachsen aus den Bruchstellen und Schlingpflanzen ranken sich an den bröckelnden Säulen empor. Die opulente Pracht von einst ist dem märchenhaften Charme des Zerfalls gewichen.

„Es ist ein unglaublicher Aufwand und kostet viel Geld diese alten Bauten zu erhalten“, weiß David Purdy, der Chef des kleinen traditionsreichen Old Kenilworth Hotels, aus eigener Erfahrung. „Allein die Außenwände müssen wegen des Monsoon zweimal im Jahr gestrichen werden“, sagt der 43-Jährige. Er sitzt im Garten hinter seinem Hotel. Vögel zwitschern, der schwere, süße Duft von Blumennektar liegt in der Luft, Purdys Labrador wedelt faul mit seinem Schwanz. Die hohen Bäume werfen ihre Schatten auf das kleine Stückchen Rasen hinter dem frisch getünchten Kolonialbau. Ein paar Quadratmeter Paradies inmitten einer Mega-Stadt wie Kalkutta. Ende der 1940er Jahre eröffneten Purdys englisch-armenische Großeltern das Hotel, seit sechs Jahren leitet er es nun. Gerne erzählt er, die Geschichte von einem Gast, der im Hotel wohnte, als seine Mutter es noch führte. Diese musste mit ansehen, wie der Mann Nacht für Nacht stundenlang auf einem Stuhl im Garten saß. Voller Sorge er fühle sich in seinem Zimmer nicht wohl, fragte sie ihn, ob denn alles in Ordnung sei. „Wissen sie denn nicht, dass sie 80 verschiedene Vogelarten in ihrem Garten haben?“, fragte er seine Gastgeberin aufgeregt und erklärte ihr, dass er Ornithologe sei und die frühen Morgenstunden dazu nutze die Vögel zu beobachten. Seit dem schätzt Purdy sein Stückchen Grün ganz besonders.

Wer keinen eigenen Garten hat verbringt seine Freizeit auf dem Maidan, dem grünen Herzstück Kalkuttas. Die Rasenfläche dient als Kricketfeld, Reitkoppel und Picknickplatz. Verkäufer mit Handwagen versorgen die Hungrigen mit Köstlichkeiten wie Behlpuri mit saurem Tamarindensaft, frisch gerösteten Erdnüssen mit Chilisalz oder in knusprigen Teig gehüllte Gemüsestückchen. Aus Teekannen gießen die Chai-Wallah milchig süßen Tee in kleine Gläser, andere locken mit frischem Limetten-Soda. Inmitten des Geschehens thront das majestätische Viktoria-Denkmal. Der Kolossalbau aus weißem Marmor wurde 1921 eröffnet, als Kalkutta noch britisch war. Böse Zungen nennen es einen misslungenen Versuch der Kolonialherren, den Taj Mahal in Agra zu übertrumpfen. Dennoch bilden sich vor dem Museum jedes Wochenende lange Schlangen. Stoisch wird hier angestanden und man fragt sich woher, die Menschen Kalkuttas ihre Muße nehmen, nach einer Woche des Staustehens, des Drängens in den Straßen-, U-Bahnen und Bussen, sich auch am Wochenende in eine Reihe zu stellen und zu warten.

Vielleicht nehmen sie sich ein Beispiel an Kali, der Schutzgöttin Kalkuttas, die der Welt ihre rote Zunge rausstreckt, ganz nach dem Motto „Ätsch! Wer glaubt wir geben wegen ein paar Widrigkeiten auf, hat sich getäuscht.“ Bildchen der schwarzen Göttin werden an Bäume genagelt. Blumenbeschmückte, weihrauchumwaberte Altäre stehen in Geschäften und Zimmerecken. Doch der wichtigste Ort der Verehrung befindet sich in Kalighat im Süden Kalkuttas, da wo der Verkehr noch dichter, die Strassen schmaler, die Armut größer und das Chaos überwältigender werden. Irgendwann gelangt man zu einem großen Platz. Auf dem Boden lagern Männer, Frauen, alte Weiber, kleine Kinder, Krüppel und Bettler. Sie hoffen auf die Almosen der gläubigen Hindus, die den Tempel Kalis besuchen, gleichermaßen wie auf die Barmherzigkeit der Schwestern des Ordens von Mutter Teresa. Denn hier neben dem hinduistischen Heiligtum, ist das Sterbehaus des Todesengels von Kalkutta in einem alten Tempel untergebracht. Rund um den Platz reihen sich Stände mit orange und gelben Opferblumen, religiösen Artefakten, Kupfergefäßen und Anhängern, Bildern und Postkarten der dreiäugigen Kali, ihr Hals geschmückt von einer Kette aus abgeschlagenen Köpfen, beschürzt von einem Rock aus Armen. Die heilige Figur aus einem schwarzen Stein mit einer langen goldenen Zunge aus Gold, behangen von Tüchern und frischen Blumen, sitzt in einem kleinen Raum im Innersten der Tempelanlage. Eine nicht enden wollende Schlange von Pilgern schiebt sich an ihr vorbei. Doch auch hier zeigen sich die Menschen stoisch, um auch nur einen Blick auf Kalis Antlitz zu erhaschen und kurz Zwiesprache mit ihr zu halten. Vielleicht weil sie sich hier göttliches Gehör verschaffen können, ganz ohne auf die Hupe zu drücken.



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