Kalkutta. Die Stadt der schwarzen Göttin
Hupen ist für die Bewohner Kalkuttas gleichbedeutend mit Atmen. Es geht nicht ohne. „Huuup,huuup, hup“, tönt es Tag und Nacht durch die Strassen der Metropole im Nordosten Indiens. Nicht kurz und zaghaft, sondern lange und laut. Man sagt, dass die Straßen Kalkuttas leer wären, würde man den Bewohnern ihre geliebte Hupe wegnehmen. Doch vielleicht ist es für sie die einzige Möglichkeit sich in dieser heillos überbevölkerten Stadt mit etwas über fünf Millionen Einwohnern, im Großraum Kalkutta sind es sogar über 15 Millionen, Gehör zu verschaffen.
„Es ist ein unglaublicher Aufwand und kostet viel Geld diese alten Bauten zu erhalten“, weiß David Purdy, der Chef des kleinen traditionsreichen Old Kenilworth Hotels, aus eigener Erfahrung. „Allein die Außenwände müssen wegen des Monsoon zweimal im Jahr gestrichen werden“, sagt der 43-Jährige. Er sitzt im Garten hinter seinem Hotel. Vögel zwitschern, der schwere, süße Duft von Blumennektar liegt in der Luft, Purdys Labrador wedelt faul mit seinem Schwanz. Die hohen Bäume werfen ihre Schatten auf das kleine Stückchen Rasen hinter dem frisch getünchten Kolonialbau. Ein paar Quadratmeter Paradies inmitten einer Mega-Stadt wie Kalkutta. Ende der 1940er Jahre eröffneten Purdys englisch-armenische Großeltern das Hotel, seit sechs Jahren leitet er es nun. Gerne erzählt er, die Geschichte von einem Gast, der im Hotel wohnte, als seine Mutter es noch führte. Diese musste mit ansehen, wie der Mann Nacht für Nacht stundenlang auf einem Stuhl im Garten saß. Voller Sorge er fühle sich in seinem Zimmer nicht wohl, fragte sie ihn, ob denn alles in Ordnung sei. „Wissen sie denn nicht, dass sie 80 verschiedene Vogelarten in ihrem Garten haben?“, fragte er seine Gastgeberin aufgeregt und erklärte ihr, dass er Ornithologe sei und die frühen Morgenstunden dazu nutze die Vögel zu beobachten. Seit dem schätzt Purdy sein Stückchen Grün ganz besonders.
Wer keinen eigenen Garten hat verbringt seine Freizeit auf dem Maidan, dem grünen Herzstück Kalkuttas. Die Rasenfläche dient als Kricketfeld, Reitkoppel und Picknickplatz. Verkäufer mit Handwagen versorgen die Hungrigen mit Köstlichkeiten wie Behlpuri mit saurem Tamarindensaft, frisch gerösteten Erdnüssen mit Chilisalz oder in knusprigen Teig gehüllte Gemüsestückchen. Aus Teekannen gießen die Chai-Wallah milchig süßen Tee in kleine Gläser, andere locken mit frischem Limetten-Soda. Inmitten des Geschehens thront das majestätische Viktoria-Denkmal. Der Kolossalbau aus weißem Marmor wurde 1921 eröffnet, als Kalkutta noch britisch war. Böse Zungen nennen es einen misslungenen Versuch der Kolonialherren, den Taj Mahal in Agra zu übertrumpfen. Dennoch bilden sich vor dem Museum jedes Wochenende lange Schlangen. Stoisch wird hier angestanden und man fragt sich woher, die Menschen Kalkuttas ihre Muße nehmen, nach einer Woche des Staustehens, des Drängens in den Straßen-, U-Bahnen und Bussen, sich auch am Wochenende in eine Reihe zu stellen und zu warten.
Vielleicht nehmen sie sich ein Beispiel an Kali, der Schutzgöttin Kalkuttas, die der Welt ihre rote Zunge rausstreckt, ganz nach dem Motto „Ätsch! Wer glaubt wir geben wegen ein paar Widrigkeiten auf, hat sich getäuscht.“ Bildchen der schwarzen Göttin werden an Bäume genagelt. Blumenbeschmückte, weihrauchumwaberte Altäre stehen in Geschäften und Zimmerecken. Doch der wichtigste Ort der Verehrung befindet sich in Kalighat im Süden Kalkuttas, da wo der Verkehr noch dichter, die Strassen schmaler, die Armut größer und das Chaos überwältigender werden. Irgendwann gelangt man zu einem großen Platz. Auf dem Boden lagern Männer, Frauen, alte Weiber, kleine Kinder, Krüppel und Bettler. Sie hoffen auf die Almosen der gläubigen Hindus, die den Tempel Kalis besuchen, gleichermaßen wie auf die Barmherzigkeit der Schwestern des Ordens von Mutter Teresa. Denn hier neben dem hinduistischen Heiligtum, ist das Sterbehaus des Todesengels von Kalkutta in einem alten Tempel untergebracht. Rund um den Platz reihen sich Stände mit orange und gelben Opferblumen, religiösen Artefakten, Kupfergefäßen und Anhängern, Bildern und Postkarten der dreiäugigen Kali, ihr Hals geschmückt von einer Kette aus abgeschlagenen Köpfen, beschürzt von einem Rock aus Armen. Die heilige Figur aus einem schwarzen Stein mit einer langen goldenen Zunge aus Gold, behangen von Tüchern und frischen Blumen, sitzt in einem kleinen Raum im Innersten der Tempelanlage. Eine nicht enden wollende Schlange von Pilgern schiebt sich an ihr vorbei. Doch auch hier zeigen sich die Menschen stoisch, um auch nur einen Blick auf Kalis Antlitz zu erhaschen und kurz Zwiesprache mit ihr zu halten. Vielleicht weil sie sich hier göttliches Gehör verschaffen können, ganz ohne auf die Hupe zu drücken.
zurück
impressum